Schulautonomie – Perspektiven in Europa: Befunde aus dem EU-Projekt INNOVITAS

Rezension

https://books.google.tn/books?id=sRHCDwAAQBAJ&printsec=frontcover&hl=de#v=onepage&q&f=false

Das in allen Teilen lesenswerte Werk eignet sich sowohl als Handbuch für die Grundlagenforschung zur Autonomie als auch als Bestandsaufnahme der Realisierung von externen Evaluationen in Europa. Es gehört in jede Schulbibliothek in das Regal der Lehrerbücher und sollte auch an pädagogischen Hochschulen und anderen schulwissenschaftlichen Einrichtungen nicht fehlen. Es ist auch für den  Laien mit geringeren Vorkenntnissen leicht lesbar.

Gedankenexperiment

Gleich eingangs fängt der im deutschen Sprachraum allseits bekannte Schulforscher Erwin Rauscher die Aufmerksamkeit mit einem verblüffenden Gedankenexperiment, das die Definitionsmöglichkeiten des Begriffs „Autonomie“ recht treffend bündelt und auch philosophiegeschichtlich einbettet. Der aufmerksame Leser  möge sich überraschen lassen.

Juridische Implementation

Es schließt sich ein ausführlicher Überblick von Markus Juranek über die juridische Implementation der Autonomie in den Partnerländern des ProjektsINNOVITAS“ an. Juranek zeigt die Problematik von Rechtsvergleichen auf, geht aber dann eingehend auf das Schulrecht in Bayern, Hessen, Österreich und Südtirol ein, wobei die unterschiedlichen Begrifflichkeiten aufgezeigt werden. Mehr als eine Auflistung ist es eine Zusammenschau, was den Beitrag wertvoll macht. 30 Aspekte des Schullebens vom rechtlichen Status  über die Schulleiterbestellung  zu den finanziellen Freiräumen, zur Qualitätssicherung, zur Schulaufsicht bis hin zum Einfluss der Rechtsprechung auf schulische Entscheidungen wurden näher untersucht. Dabei werden aus Platzgründen nicht alle Ergebnisse angeführt sondern auf den Hauptbericht der Studie verwiesen. Dennoch ist die Zusammenstellung von großem Interesse, zeigt sie doch u.a. auf, auf wie viele unterschiedliche Weisen Schule und Schulrecht realisiert werden kann.

Schulautonomie in Deutschland
Matthias Rürup arbeitet die Schulautonomie in Deutschland als ein Dauerthema der Schulreform auf. Er gibt Einblick in die geschichtlichen Wandlungen dieses Themas, die Auseinandersetzungen dazu, den Diskussionsschub durch PISA und in die Tendenzen in der deutschen Schulautonomie-Debatte des letzten Jahrzehnts.

Hessen

Es folgt ein Beitrag von Frida Bordon & Norbert Leist zur Schulautonomie und der innovativen Schulaufsicht in Hessen. In Hessen betraf die Studie die berufsbildenden Schulen. Interessant und wahrscheinlich auf andere Länder ausdehnbar sind die Erkenntnisse zu bestimmten Mustern: „Die datengestützte Auf­sicht entfaltet einen enttäuschend geringen Grad an Wirksamkeit in der Einzelschule, da diese in der Regel die erhobenen Daten erst ansatzweise für Qualitätsmanagement nutzt. System-Monitoring und Metaevaluation haben geringen Einfluss auf das operative Ge­schäft. Die Schulaufsicht hat zu wenige Ressourcen und Kompetenzen, um die Einzelschule gemäß ihrer Bedarfe zu beraten oder systematisch regionale Schulentwicklung betreiben zu können. Individuelle Förderung der Schüler/innen und die Stärkung des selbstorganisierten Lernens im Kontext der Entwicklung einer neuen Lernkultur sind von geringer Relevanz für die pädagogische Arbeit. Fremdevaluation und Selbstevaluation gehören nicht selbst­verständlich zum schuleigenen Qualitätsmanagement (Oelker, 2018)“. Der Beitrag gibt dann Hinweise und Beispiele einer innovativen Beziehung zwischen Schulen und Schulaufsicht. Im Unterthema „Eigenverantwortlich – selbstständig – autonom. Schulische Entscheidungsspielräume“ wird von Bayern berichtet, wie die externe Evaluation abläuft; ein Evaluationsteam, welches jede Schule etwa alle fünf Jahre besucht besteht aus vier Personen, wovon eine aus der Wirtschaft stammt. Der Bericht ergeht nur an die Schule und die unmittelbare Schulaufsicht. Es werde daran gearbeitet, die Evaluation der Schulen zukünftig mit weniger Aufwand zu gestalten. In Hessen ist die regelhafte Schulinspektion abgeschafft und das Institut für Qualitätsentwicklung aufgelöst worden. Hier wäre es interessant gewesen, kurz auf die Hintergründe einzugehen. Denn ähnliches ist auch in Niedersachsen und in Nordrhein-Westfalen abgegangen, wo eine sehr aufwändige Schulinspektion reduziert worden ist. Das von den Niederlanden übernommene Modell erwies sich letztlich anscheinend als zu teuer.

 Zum Beitrag zu Südtirol von Pulyer &  Stuppner:

Es stellt einen großen Fortschritt für die neue Evaluationsstelle (seit 2014 im Amt) dar, dass erstmals zugegeben wird, dass es auch vor 2014 eine Schulautonomie in Südtirol und eine externe Evaluation der Schulen vor 2014 gegeben hat. Bislang hat diese Stelle dies stets kühn verneint oder ist diese Tatsache nonchalant übergangen, was bis heute noch in ihrem Webauftritt der Fall ist und in verschiedenen Schriften und Vorträgen immer wieder vorgebracht wird, z. B in der Zusammenarbeit mit Sequals wie auch in der Publikation Sitzmann [Hrsg] „20 Jahre Autonomie der Schule in Südtirol – Einschätzungen und Erfahrungen“. In dieser letzten Schrift wird die erste Evaluationsstelle zwar nebenbei  erwähnt, ihr Tun jedoch verniedlicht. Auch andere offizielle Stellen wie z. B. die Pädagogische Abteilung und deren damaliger Leiter Rudolf Meraner taten sich schwer, eine Entwicklung, die sich seit 2000 fest implementiert hat, in der Rückschau auch nur zu erwähnen.

Trotz der nun in diesem Beitrag erfolgten  Bestätigung ist der Bericht lückenhaft und teilweise mit Fehlern besetzt, auch wenn der gute Willen nicht abgesprochen werden kann, relativ ausgewogen zu berichten. Die mangelnde Kenntnis der Entwicklungsgeschichte  mag mit der Jugend der Autoren zu tun haben, welche die damit zusammenhängenden Diskussionen, Pläne und Vorschläge, aber auch normativen Festlegungen nicht aktiv mitgestaltet haben.

(http://www.schulevaluation.it/rechtliche_grundlagen.html) 

Die Ungenauigkeiten beginnt schon mit der Fokussierung des in den späten 90-er Jahren entstehenden Autonomiegedankens einzig und allein auf Meraner, der sicherlich eine treibende Kraft in der Diskussion um die mit der Schulautonomie zusammenhängenden Evaluation war, aber bei weitem nicht der einzige. Ich erinnere z. B. an den wissenschaftlichen Beirat des Pädagogischen Instituts, dem auch einer der Autoren des vorliegenden Werks angehörte, nämlich Herbert Altrichter. Andere waren Sitta, Blüml, Baur, um nur einige Kapazitäten zu erwähnen. Beiträge haben auch Prof. Posch sowie Prof. Brockmeyer geliefert. Unerwähnt blieb auch das große Vorbild für Südtirol, das erfolgreiche Trentiner Modell des Evaluationsgebarens, von dem dann das gesamte Gerüst und wesentliche inhaltliche Teile  in die Gesetzgebung und Durchführung rund um die Autonomie und die  Evaluation dazu eingeflossen sind.

In der ursprünglichen Gesetzgebung war auch ein einheitliches Modell für die drei Sprachgruppen eingeführt worden, von dem sich deutsche Sprachgruppe  nach und nach löste. Die gesetzlichen Abänderungen betrafen in der Folge nur mehr die deutsche Sprachgruppe.

Es wird von einer Neugestaltung des Qualitätsrahmens gesprochen. Dies ist nicht der Fall. Der Qualitätsrahmen ist jener der „alten“ Evaluationsstelle mit einigen geringfügigen Abänderungen und Umordnungen. Ein Bereich ist dazu gekommen und ein anderer ist zurückgestutzt worden. Die Qualitätsmerkmale sind mehr oder weniger dieselben geblieben.  Es gibt aber tatsächlich einige wesentliche Neuerungen:

1. Das Evaluationsgebaren beschränkt sich neuerdings auf die Schulinspektionen und ist wesentlich schlanker als jenes der vorherigen Evaluationsstelle. Die Berichte sind kürzer und können deshalb zeitnaher zurückgemeldet werden, nachdem sie von der Bildungsdirektion kontrolliert worden sind. Das ist auch einem mehr als dreimal so großen Personalstand gegenüber der früheren Evaluationsstelle zu verdanken. Das ist als positive Veränderung zu vermerken.

2. Der ersten Evaluationsstelle war es wichtig, unabhängig von der Bildungsverwaltung zu arbeiten. An dieser Unabhängigkeit ist zwar immer wieder gesägt worden, doch die Evaluationsstelle blieb standhaft. Das verschaffte ihr das Vertrauen der Schulen. So war die Rückmeldung des Evaluationsberichtes an die Schulen ein Sache zwischen der Evaluationsstelle und der Schuldirektion sowie dem Lehrerkollegium. Das Schulamt wurde nicht involviert. Teilweise wurden die Schulen vom Schulamtsleiter gezwungen, den erhaltenen Bericht herauszurücken, das war aber nicht mehr Sache der Evaluationsstelle. Der Aspekt der Unabhängigkeit ist mit der neuen Evaluationsstelle abgeschafft worden, sie ist der Bildungsdirektion untergeordnet. Aus der Sicht der Bildungsdirektion wahrscheinlich eine positive Entwicklung.

3. Der größte Unterschied besteht aber darin, dass die zuvor zentrale Evaluation des Schulsystems nun nicht mehr erfolgt, die Evaluation bleibt auf die Einzelschule bezogen. Zu Beginn, also mit der Einführung der Schulautonomie und mit der Durchführungsverordnung von 2003 war die Hauptaufgabe der Evaluationsstelle ein Systemmonitoring. Schul- oder gar Unterrichtsinspektionen waren nicht vorgesehen un d werden von der italienischen Sprachgruppe auch heute nicht systematisch durchgeführt. Nach und nach versuchte die deutsche Schulbehörde mittels Postillen zur ersten Durchführungsverordnung von einer Evaluation des Schulsystems abzugehen und die externe Evaluation einzig und allein auf die Einzelschule zu beziehen. Dies geschah in einer Zeit der „Lohmann-Hype“, als der niedersächsische Ministerialbeamte Armin Lohmann mit ausgeklügelten Methoden den Unterricht an den Schulen evaluierte und damit im deutschen Sprachraum große Aufmerksamkeit erregte. Das ging auch an Südtirol nicht vorbei und vom Landesbeirat wurden der Evaluationsstelle solcherart Masseninspektionen aufgedrängt, ohne jedoch den Personalstand entsprechend auszubauen. Der Leiter der Evaluationsstelle verhielt sich diesem Gebaren gegenüber skeptisch. http://www.schulevaluation.it/artikel.htm

Dennoch wurden von der Evaluationsstelle die entsprechenden Instrumente entwickelt und bis 2012 alle Schulen mit ihren sämtlichen Schulstellen evaluiert, wobei meistenteils an der Evaluationsstelle nur drei Personen angestellt waren.

Alles in allem ist die Broschüre ein lesenswerter Beitrag zur pädagogischen Fachliteratur und gleichzeitig ein Fundus an Beobachtungen zu gesellschaftlichen Entwicklungen.

Franz Hilpold, Leiter der Evaluationsstelle für die deutsche Sprachgruppe in Südtirol von 2004 bis 2012