„Bildungsgerechtigkeit“

Sozial 'gerechte' Schule auf Schülerebene

Bei der Vorstellung der PISA-2018-Ergebnisse betonte der Landesrat, dass die Qualität des Südtiroler Bildungssystems vor allem darin liege, soziale Ungleichheiten auszugleichen. Unabhängig von sozio-ökonomischen Voraussetzungen ermögliche es den jungen Menschen Bildungserfolg. Das stimmt für den einzelnen Schüler /die einzelne Schülerin. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass es für den Besuch einer Oberschule keine Zugangsbeschränkungen gibt und auch die Berufsschulen stellen keine besondere Hindernisse für die Einschreibungen auf. Eine Vorselektion erfolgt nicht. Betrachtet man den Gradienten zwischen der Leseleistung in der deutschen Schule und dem sozioökonomischen und kulturellen Hintergrund der Schüler (Index ESCS - Definition nach InValSI hier) stellt man fest, dass der Einfluss geringer ist als anderswo, z.B. in Deutschland.

Der Index ESCS (ökonomischer und soziokultureller Hintergrund)

Der Index ESCS wurde so geeicht, dass das Mittel der OECD 0 und die Standardabweichung 1 gesetzt wurden. Diese Werte schwanken geringfügig von einem PISA-Zyklus zum anderen, weil sie so berechnet werden, dass die Zahlen vergleichbar bleiben.   Der Index ESCS kann Werte von -3 bis +3 annehmen, also dreimal die Standardabweichung vom Mittelwert aus nach unten bzw. nach oben. Die Ländermittelwerte haben allerdings nicht diese Spannweite. Island hat mit 0,55 den höchsten Wert, Marokko mit -1,89 den niedersten. Die deutsche Schule in Südtirol weist einen ESCS von -0, 15 auf und liegt damit etwas unter dem OECD-Mittel von -0,03. Die italienische Schule in Südtirol hatte in den bisherigen PISA – Zyklen stets einen höhern Wert als die deutsche Schule, diesmal liegt sie mit -0,332 darunter, was z.T. auf die nunmehr starke Präsenz von Migrantenkindern in der italienischen Schule hinweist. Die ladinische Schule liegt  mit einem ESCS von -0,195 zwischen dem Wert der deutschen Schule und jenem der italienischen Schule.

Der 'soziale Gradient'

Die Steigung des so genannten ‚sozialen‘ Gradienten (= Gerade, welche den linearen Zusammenhang zwischen der Leseleistung und dem sozioökonomischen und kulturellen Hintergrund darstellt) gibt an, um wie viele Punkte sich die Lesekompetenz der Jugendlichen verbessern würde, wenn sich der sozioökonomische Status der Eltern (ESCS) um eine Standardabweichung (= Wert 1 des ESCS)   erhöhte. In Südtirol liegt dieser Wert bei 27 Punkten, also unter dem OECD – Durchschnitt, der bei 31 Punkten liegt. In Deutschland liegt dieser Wert bei 42 Punkten und damit signifikant über dem OECD – Schnitt.

Rund 6 %  (R2 = 0,057) der Unterschiede in der Leseleistung lassen sich in der deutschen Schule in Südtirol durch den sozioökonomischen und kulturellen Status der Eltern erklären, eine relativ geringe Varianzaufklärung gegenüber den 10% der OECD und den 17% in Deutschland. Das heißt, dass in der deutschen Schule in Südtirol der Einfluss des sozialen Hintergrundes geringfügig ist.  In Österreich beträgt der Gradient 40 Punkte und die Varianzaufklärung 13%, in der Schweiz 43 Punkte und 16%. In Italien ist der Wert ebenso höher als in Südtirol: einem Gradienten von 32 Punkten steht ein R-Quadrat von 9 % gegenüber,  Werte, die aber noch auf einen tolerierbaren Einfluss des soziokulturellen und ökonomischen Hintergrundes hinweisen. 

Während die deutsche Schule in Südtirol, auf den Schüler bezogen, sozial recht ausgeglichen ist, sieht die Lage auf der Ebene der Schulen  ganz anders aus. Dies mag folgendes Bild verdeutlichen:

Großer Unterschied zwischen den Schularten

Für die Gymnasien gilt: Hoher Wohlstand (kurz für: hohen Index ESCS)  - gute Ergebnisse in der Lesekompetenz. Die meisten Schulen liegen im ersten Quadranten. Für die Berufsschulen gilt: niedriger Wohlstand – schwache Ergebnisse in der Lesekompetenz. Die meisten Berufsschulen - mit zwei Ausnahmen – liegen im dritten Quadranten. Eine Berufsschule allerdings lässt in der Leseleistung gleich sieben Fachoberschulen und vier Gymnasien hinter sich. Hierbei ist zu bemerken, dass der Index ESCS nicht nur den materiellen Wohlstand misst, sondern auch stark den Bildungshintergrund miteinfließen lässt. Die Fachoberschulen zeigen größeren Teils eine überdurchschnittliche Leseleistung bei einem soziokulturellen und ökonomischen Hintergrund, der unter dem Durchschnitt liegt. Fast alle Fachoberschuen liegen oberhalb der Trendlinie (d.h. man könnte sie unter bestimmten Gesichtspunkten als resilient bezeichnen).

Die rot gestrichelte Regressionslinie bezeichnet den Zusammenhang zwischen ESCS und Lesekompetenz auf Schülerebene. Diese Linie ist tatsächlich sehr flach, was darauf hinweist, dass das Bildungswesen sozial ausgeglichen ist. Dass dies auf der Ebene der Schulen  nicht der Fall ist, zeigt die recht steile schwarz-durchgezogene Trendlinie. Auf Schulebene erklärt der Index ESCS 54,4% der Unterschiede in der Lesekompetenz zwischen den Schulen.

Das bedeutet, dass die Schulen je nach Schulart Aggregationseinheiten bezüglich der Leistung bilden. Kinder aus Familien mit hohem ökonomisch-kulturellem Hintergrund finden sich mit großer Wahrscheinlichkeit eher in Gymnasien und in Fachoberschulen wieder und weniger in der Berufsschule, wo sich eher die Kinder aus einfachen Verhältnissen finden. Diese Tendenz ist mäßig stark ausgebildet, aber nicht vernachlässigbar.

Der Intraklassenkorrelation (ICC: intra-class-correlation)

Einen Hinweis auf den Einfluss der Aggregatbildung, also der Schulen, auf die Leistungsunterschiede, bildet der Intraklassenkorrelations- koeffizient. Dieser misst das Verhältnis der Streuung zwischen den Schulen ('between') zur Streuung innerhalb der Schulen ('within') .  'Sozial' ideal ist eine möglist große Vielfalt innerhalb der Schulen und eine geringe Varianz zwischen den Schulen, also ein  niedriger Wert des Koeffizienten. In der Statistik gibt es verschiedene Methoden zur Berechnung (https://en.wikipedia.org/wiki/Intraclass_correlation). Wir wählen die in der Mehrebenenanalyse am häufigsten verwendete Formel:

Rho=RB^2 / (RB^2+RW^2) , Wobei  RB für die Korrelation zwischen den Aggregateinheiten (Between) und RW für die Korrelation innerhalb der Aggregateinheiten (Within) steht. 

Beim ESCS haben wir in der deutschen Schule in Südtirol ein Rho von

Mathematik und Naturwissenschaften

Zum Vergleich der Zusammenhang zwischen dem ESCS und der Mathematikkompetenz sowie der Leistung in den Naturwissenschaften. 

Die Mittelwertlinien und die rote gestrichelte Trendlinie sind auf Schülerebene berechnet, während die schwarze durchgehende Linie die Regression auf Schulebene beschreibt. Auf Schülerebene erklärt der Index ESCS 7,6% der Varianz, auf Schulebene hingegen 46%.

Die Mittelwertlinien und die rote gestrichelte Trendlinie sind auf Schülerebene berechnet, während die schwarze durchgehende Linie die Regression auf Schulebene beschreibt. Auf Schülerebene erklärt der Index ESCS 5,9 % der Varianz in den Naturwissenschaften, auf Schulebene hingegen 54 %.

Man sieht, dass in Mathematik und in den Naturwissenschaften die Tendenz zur Leistungsagglomeration durch die Schularten noch stärker ausgebildet ist. Die Fachoberschulen bilden dabei eine  Brücke zwischen den Gymnasien und den Berufsschulen und zeigen sich resilient, indem sie ausgehend von einem eher mäßigen soziokulturellen Hintergrund mit guten Leistungen dastehen, die über jenen des Gymnasiums liegen.  Vor der Schulreform von 2011 hatten die Lehranstalten die Funktion des Bindegliedes zwischen Berufsschulen und Gymnasien, wobei die Anforderungen dort etwas geringer waren als in den Fachoberschulen, aber dennoch ein schulisches Angebot lieferten, das Kindern, die nicht gewillt waren, nach der Schule ein Studium aufzunehmen, gute berufliche Chancen bot aber auch ein Weiterstudium  ermöglichte. Die Abschaffung der Lehranstalten war demnach ein bildungspolitischer Fehler. Man erhoffte sich damals, mit dieser Maßnahme die landeseigenen Berufsschulen aufzufüllen, was jedoch misslang. In italienischen Schule ist man diesen Weg nicht gegangen und hat die Lehranstalten belassen. Neuerdings versucht man in der deutschen Berufsschule mit einer Art Matura das Manko auszugleichen.